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Seit Jahrzehnten hilft Julie Cornelius Frauen auf der ganzen Welt, die Kraft des Mountainbikens zu entdecken, doch ihr erster Besuch im Königreich Bhutan wurde zu einer einzigartigen Lektion über die Kraft der Freundschaft. In diesem abgelegenen Gebirgsland gibt es nur eine Handvoll Mountainbiker, dabei hat es das Potenzial, ein Beispiel dafür zu werden, wie man eine gleichberechtigte, bestärkende und inspirierende Fahrradkultur aufbauen kann.

 

Mittlerweile ist Julie wieder zu Hause in Moab im US-amerikanischen Bundesstaat Utah und hat uns von ihrer Abenteuerreise nach Bhutan erzählt.

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Vier Freundinnen

In Bhutan gibt es zwar jede Menge Berge, aber nicht viele Mountainbiker. Unter den rund 30 ambitionierten Fahrern in diesem abgelegenen und zutiefst geheimnisvollen Binnenstaat sind so gut wie keine Frauen. Dafür gibt es eine ganze Reihe verschiedener Gründe. Beispielsweise sind Fahrräder und Fahrradteile schwer zu bekommen und viele Menschen haben kaum Zeit für Outdoor-Aktivitäten. Doch der wichtigste Grund ist wohl kultureller Natur. Es gibt hier keine Barrieren oder Vorurteile gegen Frauen, die Extremsport betreiben, vielmehr ist Bhutan ein Sonderfall. Dieser Ort war jahrhundertelang von der Außenwelt abgeschottet und wurde nicht mit Bildern und Beispielen überflutet, die zeigen, wie sich der Rest der Welt verhält. Das Thema Damen-Mountainbiken wird weder zensiert noch verdrängt – es existiert in den Köpfen der meisten Menschen einfach nicht.

Women mountain biking in Bhutan
Women mountain biking in Bhutan

World Rider

Meine Organisation World Ride möchte das ändern. Wir haben Frauen auf der ganzen Welt dabei geholfen, durch das Mountainbiken neue Perspektiven zu gewinnen, beispielsweise durch die Ausbildung zu Guides und auch durch die Teilnahme an gemeinsamen Touren in der Community. Ich glaube fest an die transformative Kraft von Frauen auf Mountainbikes. Dabei geht es nicht nur um sie selbst oder um die sozialen und wirtschaftlichen Vorteile, die solche Jobs mit sich bringen können, sondern auch darum, ein Vorbild zu sein, das Fahrerinnen auf der ganzen Welt herausfordert und inspiriert. Wenn du nämlich in ein derart entlegenes Land zur MTB-Tour deines Lebens reist und dort von einer kompetenten, erfahrenen, einheimischen Mountainbikerin geführt wirst, dann wirst du das Land meiner Meinung nach sehr viel intensiver wahrnehmen. Das habe ich schon in Nepal, Guatemala, Peru und Lesotho erlebt ... und hoffentlich bald auch in Bhutan.

 

Nicht wirklich vorbereitet war ich allerdings auf die atemberaubende Schönheit von Bhutan. Der Flug nach Paro ist schon ein Abenteuer für sich, denn das kleine Flugzeug dreht in eine steile Schräglage und fliegt gefährlich nah an den Hängen des Himalaya entlang, bevor es nur wenige Meter über der Landebahn um volle 180 Grad dreht und dann zur Landung ansetzt. Anscheinend gibt es nur 50 Piloten weltweit, die in der Lage sind, diesen Flughafen anzufliegen.

Jede Menge Berge

Die Berge sind das, was Bhutan ausmacht. Die bewaldeten Hänge des Himalaya erstrecken sich in alle Richtungen und nehmen über 70 % des gesamten Landes ein. Sie haben eine tiefe spirituelle Bedeutung für die Bhutanesen, die das Bergsteigen über 14.000 Fuß grundsätzlich verbieten aus Angst, die Götter zu stören. Für Bergsteiger mag das eine frustrierende Nachricht sein, doch für abenteuerlustige Mountainbiker bedeutet dieses Verbot, dass alte Trampelpfade, Tierpfade und wilde, unberührte Singletrails über Hunderte von Kilometern zur freien Verfügung stehen. (Dass der König von Bhutan selbst ein begeisterter Mountainbiker ist, ist dabei durchaus vorteilhaft.) Man kann Trails mit 11.000 Fuß Höhenunterschied über 25 Kilometer hinunterfahren und wird nur durch flatternde Gebetsfahnen oder einen neugierigen Hund daran erinnert, dass hier überhaupt jemand lebt. Das hat zur Folge, dass immer mehr abenteuerlustige Mountainbiker nach Bhutan reisen.

 

Und so kam mir die Idee zu der Reise. Als ich vor ein paar Jahren mit World Ride in Nepal war, machte ich die Bekanntschaft von Pelden Dorji, dem Besitzer von Bhutan Rides und der treibenden Kraft hinter Bhutans kleiner, aber feiner MTB-Szene. Er war begeistert davon, World Ride nach Bhutan zu holen, und damit begann unsere Zusammenarbeit. Ihm liegt genauso viel daran wie mir, die Fahrkultur in Bhutan von veralteten patriarchalischen Vorstellungen zu befreien, damit sich auch weibliche Fahrerinnen gleichberechtigt einbringen können.

Building shimano equipped mountain bikes in Bhutan
Building shimano equipped mountain bikes in Bhutan

Ich kam also Anfang Dezember letzten Jahres mit Jetlag, Vorfreude und einer großen Aufgabe in der Hauptstadt Thimphu an. Zu meiner Crew gehörten die US-amerikanische Filmemacherin Colleen Maes, die Abenteuerfotografin Leslie Kehemeir und der MTB-Journalist Tim Wild, die nur darauf brannten, die ersten Aufnahmen von Mountainbikerinnen in Bhutan für Film und Printmedien einzufangen. Wir waren mit zwei neuen vollgefederten Mountainbikes von Marin, jeder Menge Fahrradbekleidung von SHIMANO und Helmen von Lazer bestens gewappnet, hatten aber keine Ahnung, was uns erwarten würde. Monatelang hatten wir geplant und diskutiert, aber persönlich vor Ort zu sein, war dann doch etwas ganz anderes. Würden die von uns angeworbenen Frauen tatsächlich erscheinen? Wären sie überhaupt daran interessiert, Zeit in eine Ausbildung zur Mountainbikerin zu investieren? Nichts ist so beängstigend wie Ungewissheit ...

 

Aber genau dort, auf dem kleinen asphaltierten Platz vor dem Hotel, hatte ich eines der schönsten Mountainbike-Erlebnisse meines Lebens – und das praktisch ohne aufs Rad zu steigen. Die vier einheimischen Frauen, die neugierig geworden und zum Treffen gekommen waren, hießen Dawa, Khusala, Tshering Dolkar und Tshering Zam. Sie alle hatten sich extra für dieses Treffen von der Arbeit und ihren familiären Verpflichtungen freigenommen und wirkten in den ersten Minuten genauso nervös wie ich.

 

Doch als wir dann die beiden riesigen Pappkartons mit den neuen Mountainbikes von Marin heranschleppten und die Frauen ermutigten, sie auszupacken, war es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Sie stürzten sich auf die Bikes wie eine F1-Boxencrew, und mit ein wenig Hilfe von mir und ein paar Inbusschlüsseln war unser frisch gebackenes MTB-Team voll dabei: Pedale wurden angebracht, Steuersätze eingestellt, Bremsscheiben und Sättel montiert, und über jede schief sitzende Schraube und jeden aufgeschürften Knöchel wurde gelacht. Da gab es keine Nervosität oder kulturellen Barrieren – bloß eine Gruppe von Freundinnen, die eine Aufgabe zu erledigen hatte. Ein paar Stunden später glänzten zwei nagelneue Fahrräder in der Sonne und warteten nur darauf, gefahren zu werden.

building shimano equipped mountain bikes in Bhutan
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Building shimano equipped mountain bikes in Bhutan
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assembeling mountain bikes for women mtb riders in Bhutan
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Klein anfangen

Unsere vier Freundinnen hatten noch so gut wie keine Erfahrung mit dem Radfahren. Khusala war die Einzige, die als Kind schon Fahrrad gefahren war, und Tshering Zam hatte erst eine Woche vor unserer Ankunft erste Fahrversuche unternommen. Doch das gab mir die Gelegenheit, etwas zu tun, was mir besonders liegt: nämlich Menschen helfen, diese wirklich grundlegenden, ersten Schritte zu unternehmen. Ich arbeite schon lange als Guide und Coach und bin schon mit Hunderten von Menschen gefahren, doch wenn Fahranfänger zum ersten Mal einen Vorgeschmack auf die Freiheit erleben, die ihnen das Fahrrad bieten kann, gibt mir das immer noch einen unglaublichen Kick. Zu sehen, wie diese vier Fahranfängerinnen ganz vorsichtig über den Platz rollen, wie sie die ersten Wackler und Fehlstarts überstehen, wie sie mitlaufen und sich gegenseitig anfeuern, das führt mir vor Augen, wie sehr sich diese Arbeit lohnt und immer lohnen wird.

 

Nach unserer Einführung auf dem Platz stiegen wir alle in Vans und fuhren mit unseren Anfängerinnen zu sanften, unbefestigten Wegen oberhalb der Stadt – ein riesiger goldener Buddha hatte uns dabei genau im Blick. Hier konnte ich ihnen ein paar technischere Skills beibringen: die Körperhaltung auf dem Fahrrad, wie man sanft bremst und das Gewicht in den Kurven verlagert. Ihre Begeisterung war ansteckend, die Freudenschreie und das Lachen schallten über die Hügel, und irgendwann rollten wir dann völlig erschöpft, verdreckt, aber extrem motiviert gen Sonnenuntergang.

Mountain biking in Bhutan
Mountain biking in Bhutan

Zeit fürs Abenteuer

Die Zeit auf dem Rad ist für die meisten von uns eine Art Flucht – eine Befreiung vom Druck des Alltags. Ich wünsche mir, dass es das auch für diese Frauen sein wird, doch es muss noch mehr bieten. Bhutan ist ein armes Land, und viele junge Menschen wandern aus, um in Australien oder anderswo bessere Verdienstmöglichkeiten zu finden. Angesichts der zunehmenden Beliebtheit bei internationalen Radfahrern, des wachsenden Trailnetzes und der Entwicklung der Branche halte ich es für extrem wichtig, dass Frauen eine bedeutende, sichtbare Rolle zufällt. Doch von unseren vier Freiwilligen zu verlangen, dass sie die Zeit aufbringen, um wirklich auf hohem Niveau fahren zu lernen, dass sie Hunderte von Trail-Kilometern absolvieren und sich die menschlichen Fähigkeiten und das mechanische Wissen aneignen, um tatsächlich professionelle Guides zu werden, ist ein großes Unterfangen. Ich hatte das Glück, mit jeder dieser Frauen Zeit zu Hause zu verbringen und ihre Familien kennenzulernen. Ihre Entschlossenheit und positive Einstellung haben mich sehr beeindruckt. Jede von ihnen ist fest entschlossen, trotz der Belastung durch Arbeit und Familie die nötige Zeit aufzubringen, um sich weiter zu verbessern.

Shimano mountain bike footwear
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mtbing in bhutan
mtbing in bhutan
mtbing in bhutan
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Wir sahen sie erst nach acht Tagen wieder, da Pelden und ich eine Gruppe von US-amerikanischen Radfahrern auf einer sagenhaften Tour über die Enduro-Trails in Bhutan begleiteten. Mit dieser Tour konnten wir Geld für World Ride sammeln und hoffen gleichzeitig, dass hierdurch künftig Arbeitsmöglichkeiten für unsere Damen entstehen. Als wir unsere vier Freundinnen gegen Ende der Woche in Paro wiedersahen, war ich erstaunt. Sie waren jeden Tag zwei Stunden lang zusammen gefahren und hatten sich auf den Rädern abgewechselt. Auf ihren Handyvideos waren sie in den Gassen ihres Wohnviertels und auf unbefestigtem Gelände zu sehen, wo sie in wenigen Tagen mehr Fortschritte gemacht hatten, als ich je für möglich gehalten hätte. Tshering Zam, die nur wenige Tage zuvor Mühe gehabt hatte, sich länger als ein paar Sekunden aufrecht zu halten, ging jetzt sicher auf den Pedalen in den Stand und drehte breit grinsend weite Schleifen.

mountain biking in bhutan
mountain biking in bhutan

Wir trafen uns vor einem Café wieder, schwangen uns auf unsere Räder und fuhren los. Alle vier schafften es, mir exakt zu folgen, den richtigen Abstand zueinander einzuhalten und mit ordentlich Tempo von einem hohen Bordstein zu fahren, wobei sie den Aufprall mit den Unterarmen abfederten. Sie konnten alle sicher bremsen und anhalten und beim Fahren in den Stand gehen. Die Vorstellung, dass sie eines Tages eine Gruppe von Mountainbikern auf einem rasanten, steilen Trail durch die Wälder oberhalb von uns führen könnten, schien plötzlich überhaupt nicht mehr abwegig. Selbst jetzt, Monate später, schicken sie mir immer noch Videos von ihren Fortschritten.

shimano supporting mountain biking in Bhutan
shimano supporting mountain biking in Bhutan
mountain biking in Bhutan female mtbers
mountain biking in Bhutan female mtbers

Wir haben zwar nur ein paar kleine Schritte gemeinsam geschafft, doch hoffe ich trotzdem, dass diese Schritte eines Tages zu etwas ganz Großem führen werden. Nicht weil ich dazu einen Beitrag geleistet habe, sondern weil Frauen, denen man einmal gezeigt hat, wozu sie fähig sind, nicht mehr aufzuhalten sind.